Die Revolution(en) von 1848: Neuere Forschungen zu Erinnerung und kultureller Einbettung

Die Revolution(en) von 1848: Neuere Forschungen zu Erinnerung und kultureller Einbettung

Organisatoren
Christoph Augustynowicz, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien; Thomas Hellmuth, Institut für Geschichte, Universität Wien; Piotr Szlanta, Wissenschaftliches Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.10.2023 - 07.10.2023
Von
Benedikt Stimmer, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Auch nach 175 Jahren und jenseits einer traditionellen Ereignisgeschichte erweist sich das Jahr 1848 als zentraler Bezugspunkt für die Geschichtswissenschaft und darüber hinaus. In ihrer kaum zu überblickenden Mehrdimensionalität besitzt die Frage nach dem Erbe der Revolution(en) bis heute eine ungebrochene Aktualität, bildeten die im Kontext verstärkter sozialer Dynamik zu verortenden revolutionären Ereignisse doch den Kulminationspunkt des liberalen „Völkerfrühlings“ und zugleich den entscheidenden Katalysator für ein Auseinanderdriften der unterschiedlichen Nationalbewegungen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. 1848 erscheint damit vor allem auch als entscheidende Wegmarke für die Entstehung unterschiedlicher Erinnerungskulturen, die die Komplexität der historischen Ereignisse (national-)historiographisch potenzierten. Diesen Fragen nach Erinnerung(en) und kultureller Einbettung widmete sich die Tagung, ohne dabei jedoch die Europäizität des übergreifenden Bezugsrahmens aus dem Blick zu verlieren.

In seinem Eröffnungsvortrag thematisierte ALOIS WOLDAN (Wien/Salzburg) die Ereignisse von 1848 in Lemberg im Spiegel literarischer Zeugnisse. Dabei beleuchtete er unterschiedliche Lebenswelten vom österreichischen Beamten Benedykt Gregorowicz über den Adligen Ludwik Jabłonowski bis hin zur journalistischen Berichterstattung des jungen Constantin Wurzbach, die die Geschehnisse in der galizischen Provinzhauptstadt je nach Perspektive und sozialem Hintergrund völlig unterschiedlich wahrnahmen. Jenseits von liberalem Enthusiasmus auf der einen und Gewalterfahrungen auf der anderen Seite machte die Heterogenität der Erinnerungen vor allem deutlich, dass ein teleologisches Rückprojizieren nationaler Konfliktgeschichten durchaus hinterfragt werden kann. Auch spätere Erzählungen Leopold von Sacher-Masochs (Der Iluj) und Ivan Frankos (Ein Held wider Willen) machten übernationale und ständeübergreifende Solidarisierungen noch explizit – wenngleich ihre Ex-post-Betrachtungen bereits das Scheitern dieser Fraternisierungen im Blick hatten, 1848 mithin als Versuch einer letztlich nicht geglückten Überwindung vor allem des polnisch-ukrainischen Gegensatzes verortet wurde.

Die Frage nach kollektiven Identitätsbildungen stand im Fokus des ersten Panels, das mit einem Vortrag von MARIJA WAKOUNIG (Wien) zum slowenischen Beispiel eröffnet wurde. Darin beleuchtete sie die von einer kleinen Gruppe von Akteuren vorangetriebene Ausformulierung einer slowenischen Nationalidentität, die jedoch noch lange mit den traditionellen Landesidentitäten kontrastierte und bei einer überwiegend bäuerlich geprägten Bevölkerung zunächst keinen breiten Widerhall zeitigte. Dass die sprachnationale Binnendifferenzierung unter den Slawen noch relativ offen war, thematisierte im Anschluss auch TOMASZ JACEK LIS (Krakau) mit Blick auf Synergien und Kooperationen zwischen der polnischen Nationalbewegung und der Illyrischen Bewegung. Überwogen vor 1848 noch die Gemeinsamkeiten im Sinne romantisch-panslawischer Entwürfe, so stellte der Prager Slawenkongress einen wichtigen Wendepunkt hin zur diskursiven Separierung unterschiedlicher Nationalidentitäten dar. Ebenfalls im habsburgischen Kontext bewegte sich CHRISTOF AICHNER (Innsbruck), der die Ereignisse in Tirol und insbesondere die Flucht der kaiserlichen Familie nach Innsbruck hinsichtlich ihrer Funktion als Katalysator für (post-)revolutionäre Identitätskonstruktionen untersuchte. So setzte sich im alpinen Westen der Monarchie eine konservativ-klerikale Deutung der revolutionären Ereignisse durch, die zum Selbstbild des wehrhaften, kaisertreuen Tirolers und analogen Außenwahrnehmungen des Landes als Bastion eines konservativen Katholizismus führte. LOUISE HECHT (Heidelberg) nahm über Ludwig Augst Frankl wiederum eine charakteristische Individualperspektive ein, die zugleich für das größere Phänomen einer regen Beteiligung jüdischer Aufsteiger an den revolutionären Ereignissen in Wien steht. Obgleich die Erinnerung an 1848 für Frankl zeitlebens wichtig blieb, erschien eine geplante Chronik der Ereignisse aufgrund der Notwendigkeit politischer Zurückhaltung in der Öffentlichkeit jedoch nie.

Das zweite Panel konzentrierte sich auf den (klein-)deutschen Raum und seine östlichen Ausläufer, wobei JACEK JĘDRYSIAK (Wrocław) zunächst die (Un-)Wichtigkeit des Großherzogtums Posen für strategische Planungen der preußischen Armee vor 1848 thematisierte und die wachsende Präsenz von Garnisonen im Umfeld der polnischen Aufstandsversuche eher an politischen denn militärischen Beweggründen festmachte. Zum Quellenwert „privater“ Korrespondenzen von Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung sprach anschließend ISABEL HEIDE (Jena), die unter Verwendung eines alltags- und kulturgeschichtlichen Zugriffs einen neuen Blick auf deren Lebensführung und die Dynamik von Handlungsräumen erschloss. Insbesondere die Ehefrauen der Abgeordneten erscheinen dabei im Sinne eines erweiterten Politikbegriffs durchaus als politische Akteurinnen, die traditionelle Trennung von „Öffentlichem“ und „Privatem“ mithin als fragwürdig und revisionsbedürftig. Mit Rezeptionen der revolutionären Ereignisse befassten sich die letzten beiden Vorträge des Panels, wobei JOHAN SMITS (Amsterdam) zunächst über die Konstituierung des evangelischen „Kirchentags“ sprach, der gemeinsam mit der „Conferenz für innere Mission“ als Institution einer länderübergreifenden protestantischen Kooperation aus dem Sog der Ereignisse von 1848 hervorging. Ihre Legitimation bezogen die nationalen Zusammenkünfte in den Folgejahren zugleich immer stärker aus einer Abgrenzung zu den revolutionären „Irrungen“, die als Resultat einer defizitären Christianisierung der Deutschen und des schädlichen französischen Einflusses gedeutet wurden. JAN MARKERT (Oldenburg) beleuchtete abschließend die Bedeutung der revolutionären Ereignisse als Dreh- und Angelpunkt für die Biographie Wilhelms I. Auf Grundlage bislang wenig beachteter Ego-Dokumente hob er dessen Revolutionsparanoia als treibende Motivation seiner späteren (Außen-)Politik hervor und legte damit eine neue Lesart der Reichsgründung als Kulminationspunkt eines revolutionsprophylaktischen Projekts nahe.

PIOTR SZLANTA (Wien) eröffnete im Anschluss das letzte Panel mit einem Vortrag zum Stellenwert von 1848 in der polnischen Historiographie. Während das Revolutionsjahr zumeist im Schatten der „spektakuläreren“ polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts stand, versuchte sich insbesondere die politische Elite der jungen Volksrepublik nach 1945 an dessen Einpassung in ein marxistisch konnotiertes Geschichtsnarrativ, das den Kampf breiter Gesellschaftsschichten gegen den Absolutismus analog zur sowjetischen „Bruderschaft der Völker“ instrumentalisierte. Auf ein ähnliches Narrativ in Ungarn verwies PÉTER ZAKAR (Szeged), der die Historiographie zur Rolle der katholischen Kirche 1848/49 thematisierte und sowohl die These vom reaktionären Klerus wie auch nationalromantische Verklärungen kritisch historisierte. WERNER TELESKO (Wien) präsentierte im Anschluss Revolutionsbilder aus dem Wiener Kontext, die als visuelle Kommentierungen des Zeitgeschehens unter Rückgriff auf eine häufig sakralisierende Motivik zugleich Visionen politischer Zukunft formulierten. Dergestalt waren vor allem Lithographien mit ihrer Betonung des Ereignishaften wesentlich an den Revolutionsdebatten und ihren Sinndeutungen beteiligt. Einen dezidiert erinnerungskulturellen Einblick bot abschließend FLORIAN OSTROWSKI (Wien) am Beispiel des DEFA-Spielfilms Und wieder 48, der bereits als Vorwegnahme einer späteren DDR-Erinnerungskultur gedeutet werden kann. Indem er die Ereignisse von 1848 auf tragikomische Weise der Realität im Nachkriegsdeutschland gegenüberstellte, deklassierte der Film den „preußisch-bürgerlichen“ Weg der vergangenen Jahrzehnte und plädierte für die im 19. Jahrhundert gescheiterte „Revolution von unten“ als letztlich überzeitliches Anliegen.

Mit einem räumlichen Fokus auf (Ost-)Mitteleuropa vereinte die Tagung eine große Bandbreite unterschiedlicher Themensetzungen und Perspektivierungen und fragte damit vor allem nach den Revolutionen von 1848 im Plural. Über eine Dezentrierung der komplexen Vorgänge zur Jahrhundertmitte sowie die Auffächerung ihrer national- und gruppenspezifischen Erinnerung wurde die Mehrdeutigkeit des Revolutionsjahres in den Fokus gerückt. Jenseits einer in den Ereignissen selbst grundgelegten Partikularisierung des revolutionären Erbes war 1848 aber auch eine gesamteuropäische Zeitenwende: Als Höhe- und Endpunkt des liberalen „Völkerfrühlings“ läutete sie zugleich das Ende einer „monarchischen Internationale“ ein und steht am Beginn einer Auseinanderentwicklung verschiedener nationaler Identitätsbegriffe und ihrer jeweiligen Geschichtsnarrative, denen auch die Kirchen und selbst die europäischen Monarchen verstärkt Rechnung tragen mussten. Als fixer Bezugspunkt im Positiven wie im Negativen schrieb sich der Ereigniskomplex 1848 damit emblematisch in das europäische kulturelle Gedächtnis ein und motiviert bis heute vielfältige Bezugnahmen und produktive Auseinandersetzungen.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag

Alois Woldan (Wien / Salzburg): Die Ereignisse von 1848 in Lemberg im Spiegel von Memoiren und Belletristik

Panel 1: Die Revolutionen von 1848 zwischen Institution und Individuum: Gestreute Identitäten
Moderation und Kommentar: Christoph Augustynowicz (Wien)

Marija Wakounig (Wien): „Das Jahr 1848 war ein Schaltjahr, nicht nur im Kalender.“ 1848 und die Slowen*innen

Tomasz Jacek Lis (Krakau): „Slavic“ Identity of the Political Elites of Poles and Croats during the Springtime of Nations

Christof Aichner (Innsbruck): „... daß kein solcher menschlicher Teufel über die Gränze kommen kann ...“ Identitätsbildungen in Tirol während und nach der Flucht des Kaisers nach Tirol im Revolutionsjahr 1848

Louise Hecht (Heidelberg): Ludwig August Frankl, der jüdische Chronist der 1848-er Revolution

Panel 2: Die Revolutionen von 1848 zwischen Institution und Individuum: Von Bund zu Reich
Moderation und Kommentar: Franz Adlgasser (Wien)

Jacek Jędrysiak (Wrocław): Preußische Armee und Großpolenaufstand im Jahr 1848

Isabel Heide (Jena): „... als aus den vertraulichsten Äußerungen von Mann und Weib hervorgehend.“ Zum Quellenwert „privater“ Korrespondenzen von Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49

Johan Smits (Amsterdam): The Receptions of the 1848 Revolution(s) in the Discourses of the Protestant German Gatherings Kirchentag and Conferenz für innere Mission

Jan Markert (Oldenburg): Revolutionstrauma erzeugt Revolutionsprophylaxe: 1848/49 als Dreh- und Angelpunkt der Biographie Kaiser Wilhelms I.

Panel 3: Erinnerungen an die Revolutionen von 1848 über Medien und Diskurse hinweg
Moderation und Kommentar: Thomas Hellmuth (Wien)

Piotr Szlanta (Wien): 1848 in der Historiographie: Das Beispiel Polen

Péter Zakar (Szeged): Die katholische Kirche und die Revolution in Ungarn. Historiografische Zusammenfassung

Werner Telesko (Wien): Revolutionsbilder 1848 – Visualisierungen von Zeitgeschichte als Visionen politischer Zukunft

Florian Ostrowski (Wien): Nicht meine Revolution? Das Revolutionsjahr 1848 als ambivalente Erinnerung im ostdeutschen Spielfilm „Und wieder 48“

Abschlussdiskussion

Redaktion
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